Die Umweltkatastrophe an der Oder vom Sommer 2022 war verheerend – unzählige Fische und Muscheln sind damals verendet. Als Grüne fordern wir seitdem, dem geschwächten Ökosystem Zeit und Ruhe zur Regeneration zu geben. Die bisherige PiS-Regierung in Polen hat jedoch stattdessen die Ausbaumaßnahmen entlang des Flusses unbeirrt vorangetrieben, trotz eines durch das polnische Oberste Verwaltungsgericht verhängten Baustopps.
Als Grundlage dafür wurde das deutsch-polnische Abkommen von 2015 angeführt, das vordergründig dem Hochwasserschutz dienen sollte. Unter Expert*innen waren die Maßnahmen jedoch in Bezug auf die Effektivität in Sachen Hochwasserschutz von Anfang an umstritten. Gleichzeitig machte die polnische Regierung keinen Hehl aus ihrem eigenlichen Ziel: den Fluss zu einer großen Binnenschifffahrtsstraße auszubauen.
Für die Planung des Ausbaus auf deutscher Seite ist das Verkehrsministerium von Volker Wissing zuständig. Daher habe ich gemeinsam mit den bündnisgrünen Fraktionen des Brandenburger Landtags und des Bundestags sowie meinen grünen Kolleg*innen aus dem Europaparlament, Sergey Lagodinsky, Jutta Paulus und Ska Keller, ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben. Das Gutachten sollte prüfen, inwiefern das deutsch-polnische Abkommen unter den veränderten Rahmenbedingungen als verletzt gilt bzw. überhaupt noch Bestand hat, und welche alternativen Handlungsmöglichkeiten das Verkehrsministerium hat, das Abkommen eventuell auszusetzen, nachzuverhandeln oder zu kündigen.
Vertragsverletzungen und drastische Mängel beim Hochwasserschutz
Das nun veröffentlichte Gutachten ist eindeutig: Es attestiert mehrere Vertragsverletzungen und drastische Mängel beim Hochwasserschutz. So liegt zum Beispiel mit dem Ignorieren des Baustopps auf polnischer Seite eine gravierende Vertragsverletzung vor. Zudem ist die dem Oderausbau zugrundeliegende Umweltverträglichkeitsprüfung mangelhaft, und durch den Ausbau ist laut Gutachten keine Verbesserung des Hochwasserschutzes zu erwarten. Der Hintergrund: In der Argumentation für den Aufbau hat man sich ausschließlich auf Winterhochwasser konzentriert und einen besseren Ausbau der Fahrrinne für die Eisbrecher gefordert. Auswirkungen auf Sommerhochwasser hat man damals hingegen kaum untersucht. Eine so genannte „Hochwasserneutralität“ konnte jedoch nicht nachgewiesen werden, obwohl das vom deutschen Wasserhaushaltsgesetz so vorgeschrieben ist. Stattdessen gehen Expert*innen davon aus, dass durch die Vertiefung der Fahrrinne die Fließgeschwindigkeit des Flusses erhöht und bei immer häufigeren Starkregenereignissen (auf die wir uns aufgrund des Klimawandels einstellen müssen) die Gefahr für Sommerhochwasser enorm steigen wird – mit erheblichen Folgen für die Anrainer.
Angesichts dieser Erkenntnisse hätte das Verkehrsministerium dem Gutachten zufolge die Möglichkeit, das Abkommen zu ergänzen oder nachzuverhandeln – dafür wäre zunächst eine entsprechende Mitteilung über den Streitbeilegungsmechanismus nötig.
Die polnischen Wahlen geben Anlass zu großem Optimismus, dass es demnächst eine neue Regierung mit einem deutlich proeuropäischerem Kurs in Polen geben wird. Für mich ist klar: Minister Wissing sollte diese Chance nutzen, ein Moratorium und eine anschließende Neuverhandlung des Abkommens zu fordern – und einen echten deutsch-polnischen Dialog darüber anregen, wie diese Grenzregion entwickelt werden kann: im Interesse der Natur, der Wirtschaft und der dort lebenden Menschen.
Das ausführliche Gutachten findet ihr hier (polnische Version), gesammelte Presseberichte unter diesem Link.