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Meine Reise in den Irak und den Nordosten Syriens

Im Oktober und November habe ich während einer zweiwöchigen Reise den Irak (Bagdad, Erbil und Mossul) sowie Nordostsyrien (Qamishli und Hassakeh) besucht. Ich traf mich dabei mit Aktivist*innen, Parlamentarier*innen, Minister*innen, führenden Militärs und Diplomat*innen. Auf meiner Agenda:

  • die Situation im Irak ein Jahr nach den Protesten und im Hinblick auf die Wahlen kommendes Jahr
  • Frauen- und Minderheitenrechte im Irak
  • die Situation der ISIS-Kämpfer und ihrer Familienangehörigen im Irak und in Syrien, auch in Bezug auf mögliche Gerichtsverfahren und Deradikalisierungsprogramme
  • der Wiederaufbau von Mossul
  • die Situation ein Jahr nach der türkischen Invasion in Nordostsyrien

Auf dieser Reise wollte ich mehr darüber erfahren, welche Rolle die EU bei diesen Themen derzeit spielt – oder, besser gesagt, spielen sollte. Tatsächlich konnte ich viele Informationen und persönliche Eindrücke nach Brüssel zurückbringen:

Zum Irak

Aktivist*innen, Parlamentarier*innen und Diplomat*innen fordern eine Überwachung der bevorstehenden Parlamentswahlen durch die EU. Die Aktivist*innen zeigten sich mir gegenüber enttäuscht über die fehlende Unterstützung der EU für die Reformbewegung: Obwohl Hunderte von Demonstrant*innen getötet wurden, gab es fast keine Reaktion der EU (nicht einmal eine Resolution des Europäischen Parlaments); die meisten Täter*innen wurden nicht bestraft.

Die EU sollte mehr in Versöhnungs- und Friedensaktivitäten investieren, die über materielle Unterstüzung hinausgehen. Das schließt Aktivitäten ein, die zum Ziel haben, Vielfalt und Reichtum der Landeskultur zu zelebrieren, z.B. durch Musik- und Kulturförderung. Nach Jahrzehnten der Gewalt ist Versöhnung nach wie vor entscheidend, insbesondere in den von der ISIS-Herrschaft befreiten Gebieten.

Zum Nordosten Syriens:

Die EU und die Mitgliedstaaten haben eine Verantwortung gegenüber den Hauptakteur*innen im Kampf gegen den IS-Terror. Viele Syrer*innen fühlen sich verraten, weil weder die EU noch die USA gegen die türkische Invasion protestiert haben – auch nicht gegen die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen. Die internationale Gemeinschaft muss zudem sicherstellen, dass die kurdisch dominierten De-facto-Behörden im Nordosten Syriens bei Friedensgesprächen in angemessener Zahl vertreten sind.

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen ihre Bürger*innen, die wegen ihrer IS-Verbindungen in Nordostsyrien inhaftiert sind, in die EU zurückführen, sowie Deradikalisierungsprogramme unterstützen. Viele Personen mit IS-Verbindungen haben keine Aussicht auf ein faires Verfahren in der Region. Daher kommen Menschenrechtsorganisationen zu dem Schluss, dass diese Menschen, die bisher nicht wegen Straftaten angeklagt wurden, „willkürlich inhaftiert“ sind und dass ihre Situation eine „Kollektivstrafe“ darstellt. Dazu gehören auch Angehörige von inhaftierten Kämpfer*innen mit Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaats (siehe HRW Kanada).

Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen die humanitäre Hilfe für Nordostsyrien stärker politisch und finanziell unterstützen. In der Region sind Binnenflüchtlinge und die lokale Bevölkerung dringend auf Unterstützung von außen angewiesen. Dies ist nun umso mehr geboten, da Russland und China den Vereinten Nationen die Nutzung des syrisch-irakischen Grenzübergangs al-Yarubiyah, der einen direkten Zugang zu dem Gebiet ermöglichte, inzwischen verwehren.

1) Irak: Zurück in Bagdad: Proteste beendet – Wahlen versprochen

Es ist jetzt ein Jahr her, dass ich das letzte Mal in Bagdad war. Damals kam ich nicht aus dem Flughafen heraus: In der ganzen Stadt waren Massenproteste ausgebrochen. Ich hätte gerne den Tahrir-Platz besucht, mit seiner Straßenkunst und den vielen Aktivist*innenzelten. Aber das wäre ein zu großes Risiko gewesen – Hunderte vor allem junger Menschen wurden bei diesen Protesten getötet.

Jetzt sind die letzten Überreste der Proteste fast verschwunden. Als wir dieses Mal am Tahrir-Platz vorbeifuhren, entfernten Reinigungskräfte im Auftrag der Stadtverwaltung die Malereien von den Wänden. Am nächsten Tag waren die Spuren der Proteste und ihrer Nachwirkungen vom Platz verschwunden: dahin die Graffitis und Zeichnungen, die demokratische Reformen fordern, Korruption anprangern oder Demonstrant*innen zeigen, die während der Proteste ihr Leben verloren. Leider hat es bisher keine transparente und vollständige Untersuchung der Vorfälle gegeben: weder der tödlichen Schüsse, die von Sicherheitskräften und Milizen während der Demonstrationen abgegeben wurden, noch der von ihnen verübten Misshandlungen von Demonstrant*innen sowie anderer Gewalttaten, die ihnen zugeschrieben werden.

Einige Aktivist*innen befinden sich immer noch im Gefängnis, andere sind untergetaucht oder leben im Exil, während wiederum andere ihre Arbeit fortführen: In Bagdad traf ich zunächst die erfahrene Frauenrechtlerin Hanaa Edwar, Gründerin und Leiterin der Menschenrechtsorganisation Iraqi al-Amal. Wir hatten uns zuvor bei einer Online-Debatte über den Irak kennen gelernt.

Reinigungsarbeiten am Tahrir-Platz

Hanaa Edwar hatte etwa zwanzig Aktivist*innen in das Büro von Iraqi al-Amal im Wohnviertel Karrada eingeladen. Die Aktivist*innen waren jung, gut ausgebildet und in verschiedenen Domänen tätig, zum Beispiel in den Bereichen Frauenrechte, Rechtsberatung, Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen oder Medizin. Die Aktivist*innen ziehen eine Bilanz der Proteste: Als positiv gesehen wird die Tatsache, dass sich so viele Menschen getraut hatten, Tabuthemen anzusprechen, insbesondere mit ihren Protesten gegen eine korrupte politische Elite und gegen den zunehmenden Einfluss des Irans. Die Überwindung religiöser und ethnischer Spaltungen zugunsten eines gemeinsames Ziels hatten ein starkes Gefühl der Solidarität unter den Demonstrant*innen erzeugt. Außerdem zeigten die Proteste Wirkung: So erfolgte zum Beispiel der Rücktritt des damaligen Premierministers, vorgezogene Wahlen wurden angekündigt und einige – wenn auch begrenzte – Reformen des Wahlsystems verabschiedet.

Allerdings waren die Aktivist*innen, die ich traf, insgesamt frustriert und enttäuscht angesichts der derzeitigen Lage. Sie hatten das Gefühl, dass sich zu wenig geändert hatte, trotz all der Not und des Leids. Ein Hauptgrund, so sagten sie: Die Demonstrant*innen äußerten bei den Protesten zwar offen Kritik, aber waren nicht in der Lage, Alternativen für eine Verbesserung der Situation zu entwickeln. Daher waren die Aktivist*innen besorgt, dass auch die Mitglieder des 2021 zu wählenden Parlaments kaum auf die Stimmen der Demonstrant*innen hören werden. Während einige Aktivist*innen bereits bestehenden Parteien beigetreten sind, werden viele andere weiterhin als außerparlamentarische Opposition agieren.

Treffen mit Aktivist*innen ein Jahr nach den Protesten in Bagdad

Dies ist auf zwei Gründe zurückzuführen: Erstens fehlt es den Aktivist*innen an Ressourcen, um eine eigene Partei zu gründen, und zweitens haben viele Vorbehalte, Teil eines politischen Systems zu werden, das sie immer noch als korrupt, militarisiert und elitär beschreiben und in dem es kaum Anzeichen für Veränderungen gibt. Außerdem sind die Wahlkreise trotz einiger Wahlrechtsreformen nach wie vor klein und von ethnischem Gerrymandering betroffen, was es neuen Parteien und Kandidat*innen schwer macht, sich durchzusetzen.

Einige Aktivist*innen hatten angekündigt, als unabhängige Kandidat*innen kandidieren zu wollen, waren aber Ziel von Drohungen, Gewalt und Brandanschlägen geworden. Ein weiteres Problem ist, dass bewaffnete Gruppen und Milizen viele Menschen davon abhalten könnten, zur Wahl zu gehen. Die Aktivist*innen hoffen auf eine bessere Zukunft für ihr Land und wünschen sich internationale Wahlbeobachter*innen, insbesondere von der EU entsandt. Die Forderung nach einer EU-Wahlbeobachtungsmission wurde auch bei meinen Treffen mit Parlamentarier*innen und Diplomat*innen in den folgenden Tagen laut (Siehe auch Schriftliche Anfrage).

Ein weiteres zentrales Thema während meiner Treffen in Bagdad waren Frauenrechte und die Position der Frauen in der Gesellschaft. Aktivist*innen wiesen auf die wichtige Rolle der Frauen während der Proteste hin: Viele von ihnen waren sehr sichtbar und haben sich klar geäußert. Doch trotz einer 25-prozentigen Frauenquote im Parlament bleiben die Erwartungen an Fortschritte bei den Frauenrechten gering. Einer der Gründe dafür ist, dass eine beträchtliche Anzahl von Frauen, die über Listen etablierter politischer Parteien gewählt wurden, sich nicht für Frauenrechte einsetzen. Sie wollen vielmehr traditionelle und konservative Geschlechterrollen bewahren. Frauen, die für Frauenrechte eintreten wollen, sind oft zurückhaltend, wenn es darum geht, bei Wahlen zu kandidieren – aus guten Gründen. Sie laufen Gefahr, Gegenstand von Verleumdungskampagnen, verbalen und körperlichen Angriffen zu werden – gegen sich selbst, aber auch gegen ihre gesamte Familie.

Es gibt aber Parlamentarierinnen, die als Vorbilder dienen können. Zum Beispiel die Frauenrechtlerin Ala Talabani, die in den 80er Jahren ins Exil gezwungen wurde, weil sie sich weigerte, der Baath-Partei unter der Herrschaft Saddam Husseins beizutreten. Seit dessen Sturz wurde sie mehrmals auf der Liste der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), einer der beiden großen kurdischen Parteien, ins Parlament gewählt. Als erste weibliche Fraktionsvorsitzende der PUK im Parlament scheute sie sich nicht, die männerdominierte kurdische Führung zu kritisieren. Auch Ala Talabani wies bei unserem Treffen auf einige Fortschritte hin, die irakische Frauen in den letzten Jahren erreicht haben, wie zum Beispiel Gesetzesänderungen zur besseren Bekämpfung häuslicher Gewalt. Zudem wurden Frauenhäuser eingerichtet und andere Präventivmaßnahmen getroffen. Sie ist jedoch der Meinung, dass sich Politikerinnen nach wie vor zu sehr auf „weiche“ Politikbereiche konzentrieren, die mit Familien- und Sozialfragen zu tun haben.

Yonadam Kanna und ich
Ala Talabani und ich

An meinem dritten Tag in Bagdad traf ich mich mit Abgeordneten der Nationalversammlung. Deren Räumlichkeiten befinden sich in der von den USA errichteten, zuvor geschützten Grünen Zone. Die Treffen wurden über die irakische Botschaft in Brüssel arrangiert und ausgerichtet von Yonadam Kana, einem Abgeordneten der Nationalversammlung. Die teilnehmenden Politiker*innen repräsentierten den ethnischen und religiösen Reichtum des Irak. Unter ihnen waren Sunnit*innen, Schiit*innen, Christ*innen, Jesid*innen und Turkmen*innen. Die zersplitterte politische Landschaft des Landes macht es zunehmend schwieriger, Regierungskoalitionen zu bilden. Im Mai stellte der neue irakische Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi ein „Kompromisskabinett“ auf, dem alle wichtigen politischen Parteien angehören. Doch diese Regierung fungiert lediglich als Behelfslösung. Bei unseren Treffen brachten Abgeordnete aus verschiedenen politischen Lagern ihre Unterstützung für die Forderungen der Demonstrant*innen zum Ausdruck. Das bestehende politische System verstärke die Spaltungen in der Gesellschafft und bedürfe dringender Reformen, so die Abgeordneten. Sie schlossen sich den Forderungen der Aktivist*innen an, die eine genaue Überwachung der Wahl durch internationale Beobachter*innen fordern.

Es besteht breiter Konsens darüber, dass der Irak von internationaler Unterstützung für die bevorstehenden Wahlen profitieren würde. Neben Aktivist*innen und Parlamentarier*innen betonten auch Diplomat*innen, dass eine langfristige EU-Wahlbeobachtungsmission willkommen wäre. Eine Überwachung der sozialen Medien während der Wahlkampfphase sei zudem besonders wichtig, um zu verhindern, dass sie – wie in der Vergangenheit bereits geschehen – für Gewaltaufrufe, Hassrede und Hetzkampagnen genutzt werden. Bei den letzten landesweiten Wahlen im Jahr 2018 lag die Wahlbeteiligung bei nur 45%. Für eine höhere Wahlbeteiligung müsste das Bewusstsein in der Bevölkerung gesteigert werden.

Abgeordnete, die religiöse und/oder ethnische Gruppen vertreten, informierten mich bei meinen Treffen über die Situation der Minderheiten, besonders über die aus dem Norden. Religiöse Minderheiten, speziell Jesid*innen und Christ*innen, haben am meisten unter dem IS-Terror gelitten, und ihre Zahl schwindet. Schon bevor der sogenannte IS existierte, wurde eine autonome Zone im Gouvernement Mossul (Ninive) als sicherer Hafen für Minderheiten gefordert. Diese kam jedoch nie zustande und scheint auch jetzt unwahrscheinlich. Viele Binnenflüchtlinge, die Minderheiten angehören, mussten aufgrund des IS ihre Heimat verlassen. Die zentrale Herausforderung ist nun, ihnen eine sichere Rückkehr zu ermöglichen.

Im Oktober einigten sich die irakische Bundesregierung und die kurdische Regionalregierung (KRG) auf das sogenannte „Sinjar-Abkommen“, das den Weg für Sicherheit und Wiederaufbau im Sinjar-Distrikt geebnet hat. Das von den Vereinten Nationen vermittelte Abkommen gilt als entscheidender Schritt für die Rückkehr der Binnenvertriebenen, bei denen es sich mehrheitlich um jesidische Überlebende des IS-Terrors handelt. Allerdings wurde das Abkommen auch von einigen jesidischen Gruppen kritisiert: Sie wurden nicht in den Entscheidungsprozess einbezogen.

2) Irak: Die Wiederbelebung des Geistes von Mossul

Mossul nach dem Krieg
Status quo des Wiederaufbaus

Mossul ist ein Symbol. Es war ein kulturelles Zentrum, in dem verschiedene religiöse und ethnische Gruppen friedlich zusammenlebten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde die Stadt zu einem Hotspot für islamische Extremist*innen. Gruppen wie Al-Qaida bereiteten den Boden für die Übernahme der Kontrolle über die Stadt durch ISIS im Jahr 2014. Mossul wurde im Juli 2017 vom IS-Terror befreit, wobei der Großteil der Altstadt zerstört wurde.

Trotz aller Zerstörung gibt es Hoffnung. Geberländer wie Deutschland, Japan und die Vereinigten Arabischen Emirate, sowie die EU, investieren in großem Umfang in den Wiederaufbau der prominentesten historischen Stätten der Altstadt, darunter Moscheen, Kirchen und Häusern im Palaststil. Der Beitrag der EU zum UNESCO-Programm „Revive the Spirit of Mosul“ beläuft sich auf 20 Millionen Euro. Ziel des Programms ist es, sozialen Zusammenhalt und Versöhnung durch die Restaurierung und den Wiederaufbau der historischen Altstadt zu fördern. Das Programm bietet jungen Menschen Arbeitsplätze und die Möglichkeit, neue Fähigkeiten zu erlernen.

Die UNESCO lud mich zu einem Besuch in Mossul ein, wo ich mich von den erheblichen Fortschritten ihrer Arbeit überzeugen konnte, auch im Vergleich zu der Situation, mit der ich bei meinem letzten Besuch in Mossul im Jahr 2019 konfrontiert worden war. Bevor der Wiederaufbau begonnen werden kann, müssen die historischen Stätten von Trümmern befreit werden. Auch müssen verbliebene Artefakte stabilisiert und konserviert werden. Dafür wird die Ausbildung lokaler Handwerker (und Handwerkerinnen!) und Kunsthandwerker*innen in alten Handwerkstechniken und Fertigkeiten entscheidend sein. Obwohl das Tempo der Wiederaufbauarbeiten durch einige administrative Hürden und Covid-19 verlangsamt wurde, ist die UNESCO zuversichtlich, dass der Erfolg bald auch in der Stadt sichtbar wird. Neben dem Wiederaufbau von Gebäuden legt die UNESCO großen Wert auf die Wiederherstellung immaterieller Kulturgüter. So unterstützt von Musikkonzerten bis hin zu einem Büchermarkt verschiedenste kulturelle Aktivitäten. UNESCO-Vertreter*innen wiesen darauf hin, dass einige der rekonstruierten Gebäude für kulturelle Zwecke genutzt werden könnten, zum Beispiel als Musikschule.

Einige Tage später kehrte ich nach Mossul zurück, diesmal, um mich mit Kulturaktivist*innen zu treffen. Vor meinem Besuch hatte ich Kontakt zu „Act4hope“, einer in Beirut ansässigen NGO, die sich mit künstlerischen Projekten für Frieden und Versöhnung einsetzt – unter anderem, indem sie die Vielfalt der Musikszene Mossuls einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht. Durch „Act4hope“ konnte ich inspirierende und kreative Aktivist*innen aus der Kunstszene Mossuls kennenlernen, die in den Bereichen Musik, Literatur und Film tätig sind. Sie alle äußerten den Wunsch, dem nationalen und internationalen Publikum zu zeigen, dass das kulturelle Leben in ihrer Stadt wieder aufblüht. Richtig ist aber auch, dass viele Künstler*innen noch nicht nach Mossul zurückgekehrt sind, sondern weiterhin in anderen Teilen des Landes oder im Exil leben. Nach wie vor ist die Kulturlandschaft in männlich dominiert. Jedoch gibt es auch einige Workshops für Künstlerinnen, die großen Anklang finden.

Mossuler Aktivist*innen möchten im Rahmen des Aussöhnungsprozesses ein breites Spektrum an kulturellen Veranstaltungen initiieren, zum Beispiel ein Musikfestival, ein Filmfestival oder eine Buchmesse. Bislang ist die EU in Bezug auf „kulturelle Versöhnungsaktivitäten“ im Irak nicht sehr sichtbar gewesen. EU-Vertreter*innen sowie Vertreter*innen von Kultureinrichtungen der Mitgliedstaaten, wie dem Verbindungsbüro des Goethe-Instituts Erbil, versicherten mir jedoch, dass es viel Interesse und eine große Bereitschaft gibt, solche Initiativen zu unterstützen.

Sowohl das Goethe-Institut Erbil als auch das französische Kulturinstitut fördern eine Reihe lokaler Kulturinitiativen. Ich traf einige der Künstler*innen, die diese Initiativen vertreten, beim Besuch eines traditionellen Teehauses in Erbil. Sie schätzen die finanzielle Unterstützung sehr, ebenso wie den konstruktiven Austausch zwischen dem Goethe-Institut und ihren Initiativen. Wie im Aachener Vertrag festgeschrieben, streben die beiden Kulturinstitute an, eine gemeinsame Vertretung in Erbil aufzubauen, hoffentlich mit einem Standort auf Zitadelle von Erbil, die sich im Wiederaufbau befindet. Eine Initiative, die unsere Unterstützung verdient.

Treffen mit Künstler*innen

3) Nordost-Syrien: Reise in ein nicht offiziell anerkanntes Gebiet

Grenze zwischen Irak und Syrien

In Erbil traf ich mich mit Vertreter*innen der kurdischen Regionalregierung (KRG). Wir sprachen darüber, wie man bei der Untersuchung und Verfolgung bestimmter Menschenrechtsverbrechen vorankommen kann, besonders der durch den IS begangenen Verbrechen. Das kurdische Außenministerium vermittelte auch den Kontakt zu Amtskolleg*innen in der Autonomen Verwaltung Nordostsyriens (AANES). Dank dieser Bemühungen konnte ich die Zentralregierung in Damaskus umgehen und dennoch auf syrisches Gebiet gelangen. Von Erbil aus war es eine vierstündige Autofahrt zum irakischen Grenzübergang Fish Khabour, wo ich über eine schwimmende Brücke über den Tigris ans syrische Ufer gebracht wurde.

Drei Tage lang war ich bei Vertreter*innen der „Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien“ (AANES) untergebracht, seit 2012 zuständig für die selbstverwaltete Region, auch „Rojava“ genannt. In der Region leben verschiedene Ethnien, wie Kurd*innen, Araber*innen, Assyrer*innen, Turkmen*innen, Armenier*innen und Tscherkess*innen. Dies spiegelt sich auch in der Zusammensetzung ihrer offiziellen Streitkräfte, der „Demokratischen Kräfte Syriens“ (SDF), wieder. In der politischen Verwaltung und den militärischen Kräften dominieren eindeutig die Kurd*innen, aber auch andere ethnische Gruppen sind vertreten.

Toleranz zu fördern und den Reichtum der Multiethnizität positiv hervorzuheben ist auch ein wichtiges Ziel des Radiosenders ARTA FM, den ich auf meiner Reise besuchte. Der Sender hat in der Vergangenheit EU-Fördermittel erhalten. Sein Radioprogramm wird in vielen Flüchtlingslagern ausgestrahlt und stellt eine wichtige Informationsquelle dar. Gerade in Zeiten eskalierender Konflikte sowie der Ausbreitung von Covid haben auch die Ärmsten hierauf Zugriff. Im Gespräch mit Journalist*innen, die für den Sender arbeiten, wurden auch Fragen bezüglich der Meinungsfreiheit aufgeworfen. Es ist klar, dass die Arbeit der Medien in Rojava bestimmten Grenzen unterliegt.

Führungspositionen in der Region werden von Frauen und Männern gemeinsam bekleidet. Die wichtigsten kurdischen Streitkräfte in der Region, die YPG (Volksverteidigungseinheiten), haben auch einen reinen Frauenflügel, die YPJ (Frauenverteidigungseinheiten). Ich führte mehrere Gespräche mit der Führung der YPG und der YPJ, wie zum Beispiel mit deren Sprecherin Nesrin Abdallah, über die Situation in den Gefängnissen und Lagern, in denen ISIS-Kämpfer und ihre Familien untergebracht sind. Bei meinem Besuch im Al-Hol-Lager für Angehörige mutmaßlicher ISIS-Kämpfer wurde ich von weiblichen Wachleuten der YPJ herumgeführt, die dort für die Sicherheit zuständig sind. Kurz nach meiner Ankunft wurde ich begrüßt von Abdelkarim Omar, Co-Vorsitzender der Abteilung für Außenbeziehungen der AANES. Bei unserem Treffen und beim anschließenden Austausch mit AANES-Politiker*innen sprachen wir über wichtige Anliegen in der Region, darunter:

  • das Eindringen der Türkei in zuvor von der AANES kontrollierte Gebiete und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen
  • den Ausschluss dominierender Kräfte in der AANES von den durch Vermittlung der zustande gekommenen Friedensgesprächen aufgrund mangelnder internationaler Unterstützung
  • die Abhängigkeit der lokalen Bevölkerung und der Binnenflüchtlinge von humanitärer Hilfe, die durch die von Russland und China verhängte Schließung eines Grenzübergangs für UN-Hilfsgüter behindert wird
  • die Verteilung der Lasten in Bezug auf inhaftierte ISIS-Kämpfer und deren Angehörige in den Lagern, insbesondere solche mit der Staatsbürgerschaft eines EU-Mitgliedstaates
Mein Treffen mit Abdelkarim Omar
Das Al-Hol-Flüchtlingscamp

Zum Einmarsch der Türkei: Die internationale Koalition hat eng mit den SDF im Kampf gegen ISIS zusammengearbeitet, aber keine Maßnahmen ergriffen, um den türkischen Einmarsch entlang der Nordgrenze zu verhindern. Die Anwesenheit der türkischen Truppen und die damit verbundenen anhaltenden Menschenrechtsverletzungen bereiten den Menschen in der Region große Sorgen. Daher setzen sich die AANES und lokale NGOs für ein EU-Waffenembargo gegen die Türkei ein und dafür, dass Verstöße geahndet werden. Mir wurde außerdem mitgeteilt, dass Visumsanträge für dringende medizinische Behandlungen in EU-Mitgliedsstaaten generell abgelehnt wurden, wenn es sich um Mitglieder der SDF-Truppen handelte, die im Kampf gegen ISIS verletzt wurden.

UN-Friedensgespräche für Syrien: Die AANES ist weder von der syrischen Regierung noch von einem internationalen Staat oder einer Organisation offiziell als autonome Region anerkannt, unterhält aber einige Auslandsbeziehungen. Die dominierende politische Gruppe in den Streitkräften und der politischen Verwaltung der Region, die Partei der Demokratischen Union (PYD), bleibt von den UN-Friedensgesprächen ausgeschlossen, vor allem weil die syrische Regierung und Oppositionsgruppen ihre angeblich separatistische Agenda ablehnen. Stattdessen haben nur Vertreter*innen des Kurdischen Nationalrats (KNC) Zugang zu den Friedensgesprächen. Während der KNC mit der Regierungspartei der Autonomen Region Irakisch-Kurdistan verbunden ist und Beziehungen zur Türkei aufgebaut hat, bekämpft die Türkei die PYD aufgrund ihrer Verbindungen zur PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), deren Anführer in der Türkei eine lebenslange Haftstrafe verbüßt.

Seit letztem Jahr engagieren sich die USA und versuchen, Spannungen zwischen den Akteur*innen im Nordosten Syriens abzubauen. Das betrifft auch die kurdisch-arabischen und innerkurdischen Beziehungen. Allerdings steht die Türkei den von den USA unterstützten Friedensgesprächen zwischen den rivalisierenden kurdischen Gruppen in Syrien weiterhin kritisch gegenüber.

Zur humanitären Hilfe: Etwa drei Millionen Menschen leben in von der AANES kontrollierten Gebieten. Die Mehrheit benötigt dringend humanitäre Hilfe – insbesondere die ca. 700.000 Binnenvertriebenen, darunter Kurd*innen, die während der türkischen Offensiven aus Afrin, Tal Abyad und Ras al-Ain vertrieben wurden (Bevölkerungszahlen). Im Jahr 2020 hat die EU humanitäre Hilfe im Wert von 38 Millionen Euro bewilligt. Die Bereitstellung dieser Hilfen wird jedoch stark behindert, da Russland und China die Nutzung des Grenzübergangs al-Yarubiyah zwischen Nordostsyrien und dem Irak ablehnen. Somit kann die Hilfe nur noch über das vom syrischen Regime kontrollierte Gebiet ihr Ziel erreichen.

Zu mutmaßlichen ISIS-Kämpfern und ihren Angehörigen:
Die AANES ist für schätzungsweise 5.000 inhaftierte mutmaßliche ISIS-Kämpfer und etwa 65.000 Frauen und Kinder mit Verbindungen zu ISIS zuständig. Darunter sind 13.500 „ausländische“ Frauen und Kinder (d. h. Nicht-Syrer*innen oder Iraker*innen), die hauptsächlich in den Lagern al-Hol und al-Roj festgehalten werden. Mehr als 1000 ausländische Kämpfer*innen aus EU-Mitgliedstaaten sind in Behelfsgefängnissen inhaftiert.

Während meines Aufenthalts besuchte ich das Al-Hol-Lager, einen der Orte in Syrien, an dem Angehörige von mutmaßlichen ISIS-Kämpfern festgehalten werden – alles Frauen oder Kinder. Nach Angaben der Wachen leben im „Ausländer*innen“-Teil des Lagers etwa 7000 Kinder und 2000 Frauen. Die Wachen bestätigten Berichte über Kämpfe zwischen Frauen im Lager, insbesondere Vorfälle, bei denen radikale Frauen andere angriffen, was sogar zu Todesfällen führte. Den Wachleuten zufolge ist es nicht möglich, die Sicherheit innerhalb der Lager zu gewährleisten. Die Lagerbevölkerung ist weitgehend für die internen Abläufe zuständig, einschließlich der Lebensmittelverteilung und der Schulausbildung der Kinder. Es mangelt an Lebensmitteln und warmer Winterkleidung. Die sanitären Anlagen sind sehr einfach.

Eine beträchtliche Anzahl syrischer Frauen und Kinder mit Verbindungen zum IS wurde in den letzten Monaten freigelassen. „Ausländische“ Frauen und Kinder konnten von diesen Amnestien nicht profitieren, da dies eine Rückführung in ihre Heimatländer voraussetzen würde. Menschenrechtsorganisationen haben die Rechtmäßigkeit der immer noch andauernden Inhaftierung von Frauen und Kindern mit IS-Verbindungen in al-Hol und an anderen Orten in Frage gestellt. Sie haben die AANES dazu aufgefordert, Inhaftierte, die nicht wegen einer strafbaren Handlung angeklagt sind oder deren Inhaftierung nicht von einem Gericht angeordnet wurde, freizulassen. (Siehe HRW, 29. Juni 2020: „Bring me back to Canada“).

Neben der Rückführung von EU-Bürger*innen mit Verbindungen zum IS sollten sich die EU-Mitgliedsstaaten auch stärker an Deradikalisierungsprogrammen in den Lagern beteiligen, unabhängig von der Nationalität der Teilnehmenden. Ein solches Engagement sollte die Initiativen ergänzen, die durch das EU-Instrument zur Förderung von Stabilität und Frieden (IcSP) finanziert werden, zum Beispiel ein Deradikalisierungsprogramm für Kinder und Ehefrauen von IS-Kämpfern im Lager al-Hol.

Eine beträchtliche Anzahl von Syrer*innen wurde bereits vor AANES-Gerichten angeklagt. Die Lage der mutmaßlichen „ausländischen“ IS-Kämpfer bleibt jedoch kompliziert. Die AANES hat angeboten, mit internationaler Unterstützung Prozesse gegen „Ausländer*innen“ in ihrem Gebiet abzuhalten. Es ist unwahrscheinlich, dass europäische Länder einen solchen Rahmen unterstützen würden, da dies eine implizite Anerkennung der AANES bedeuten würde. Es gab auch Vorschläge, Prozesse gegen ausländische IS-Verdächtige im Irak abzuhalten, unter anderem unter Aufsicht des „United Nations Investigative Team for Accountability of Da’esh/ISIL“ (UNITAD). Aber es scheint, dass weder die irakischen Behörden noch UNITAD ein solches Szenario unterstützen.

Daher gibt es nur eine praktikable Option für den Umgang mit EU-Bürger*innen, die in Syrien als IS-Verdächtige festgehalten werden, sowie für deren Angehörige: ihre Rückführung in die EU. In ihren Herkunftsländern können sie in fairen, internationalen Standards entsprechenden Prozessen vor Gericht gestellt und nach ihrer Freilassung innerhalb des gesetzlichen Rahmens überwacht werden. Ehemalige Kämpfer und ihre Angehörigen sollten ermutigt werden, an Deradikalisierungsprogrammen teilzunehmen. Mit der Rückführung von 110 Bürger*innen, darunter Männer, Frauen und Kinder, kann der Kosovo als Beispiel dienen, von dem andere europäische Länder lernen können.

Angesichts der brutalen Verbrechen des IS ist es nachvollziehbar, dass die EU-Mitgliedsstaaten bei der Rückführung von IS-Kämpfern zögern. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten können jedoch nicht einfach abwarten und versuchen, das Problem auszusitzen. Bereits im September 2019 erklärte der UN-Sonderberichterstatter für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte bei der Terrorismusbekämpfung:

Die dringende Rückkehr und Rückführung von ausländischen Kämpfern und ihren Familien aus Konfliktgebieten ist die einzige völkerrechtskonforme Antwort auf die zunehmend komplexe und prekäre Menschenrechts-, humanitäre und Sicherheitslage, mit der diese Frauen, Männer und Kinder konfrontiert sind, die unter unmenschlichen Bedingungen in überfüllten Lagern, Gefängnissen oder anderswo im Norden der Arabischen Republik Syrien und im Irak festgehalten werden.“

Schlussbemerkungen

Während meiner zweiwöchigen Reise in den Irak und den Nordosten Syriens habe ich wunderbare Menschen getroffen. Natürlich haben wir hauptsächlich über Politik gesprochen – aber nicht nur! Nicht all meine Begegnungen haben sich in diesem Missionsbericht niedergeschlagen, aber jede einzelne war unglaublich wertvoll für mich. Ich möchte mich bei allen für ihre Unterstützung bedanken!

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