Diesen Juni war ich wieder auf der Oder unterwegs, nach meiner ersten Tour im August letzten Jahres. Damals hat mich das Fisch- und Muschelsterben enorm betroffen gemacht. Mir war klar: Die Oder braucht Entlastung und konkrete Schritte, um eine erneute Katastrophe zu verhindern. Daher stand meine zweite Tour unter dem Motto „Alles wieder im Fluss?”. Im Austausch mit polnischen und deutschen Vertreter*innen aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft wollte ich herausfinden, was sich seit dem Fischsterben getan hat. Mehr lest ihr im Interview:
Letztes Jahr hast du beim Einsammeln der toten Fische mitgeholfen – und dich beeindruckt gezeigt von den vielen Freiwilligen, die diese Arbeit tagelang erledigt haben. In der Woche vor deiner Abreise gab es aus Polen schon wieder erste Berichte über Fische, die wegen der Goldalge verendet waren. Mit welchem Gefühl bist du an die Oder gefahren?
Ich hatte ehrlich gesagt sehr gemischte Gefühle. Einerseits habe ich mich natürlich darauf gefreut, eine Woche in der Natur zu sein und viele Menschen zu treffen, denen die Oder am Herzen liegt. Und gleichzeitig war da die große Sorge um den Fluss. Wir haben schließlich alle Angst, dass es dieses Jahr wieder zu einem Fischsterben kommt. Solange die Salzeinleitungen der polnischen Bergwerke nicht stark reduziert werden, können wir alle nur hoffen und weiter das Gespräch mit unseren polnischen Nachbarn suchen.
Wie war die Lage dann vor Ort? Gemeinsam mit dem brandenburgischen Umweltminister Axel Vogel hast du den Oderfischer Helmut Zahn zu einer Probefischung begleitet, um mehr über den Zustand der Fischpopulationen herauszufinden.
Das Ergebnis war eindeutig: Es gibt noch Fische, aber sehr viel weniger als im letzten Jahr. Teilweise lag die Oder komplett glatt vor uns; keine Luftblasen, keine springenden Fische, keine Bewegung. Der Fluss braucht wirklich Zeit, Ruhe und Renaturierung. Dazu muss man sagen, dass die Fischereibetriebe vor Ort durch ihr selbst auferlegtes Fischereiverbot während der Laichzeit ihren Teil dazu beitragen, dass sich der Fischbestand in der Oder hoffentlich schneller regenerieren kann. Aber noch einmal: Das Hauptproblem sind die Salzeinleitungen. Denn die lassen die Goldalge wachsen, durch deren Gift Fische und andere Flusslebewesen sterben. Man muss sich das einmal vorstellen: Diese Alge kommt normalerweise nur in Brackwasser vor. Die Oder dagegen führt – eigentlich – Süßwasser.
Stoppen könnte diese Einleitungen aber nur die polnische Regierung. Und da stellt sich die Zusammenarbeit schwierig dar …
… in der Tat. Die deutsch-polnische Expert*innengruppe zum Fischsterben konnte sich nicht einmal auf einen gemeinsamen Bericht einigen, viele Daten aus Polen wurden nicht übermittelt. Und die Meldeketten funktionieren nach wie vor nicht. Nun soll es auch noch ein neues polnisches Gesetz „zur Revitalisierung der Oder“ geben; nur steht dort wenig, was die Oder schützt, und vieles, was sie weiter belastet. Wenn dieses Gesetz umgesetzt wird, wird das den Fluss faktisch zerstören. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit meiner Parlamentskollegin Jutta Paulus und den polnischen Grünen in Stettin haben wir es daher scharf kritisiert.
Viel besser klappt dagegen die Verständigung auf zivilgesellschaftlicher Ebene. In Mescherin hast du deswegen (gemeinsam mit „Łączy nas Odra – Die Oder verbindet e.V.“ und „Save Oder Die“) einen deutsch-polnischen Tag für lokale und regionale Initiativen organisiert.
Und dieser Tag war ein voller Erfolg! Vertreter*innen von Organisationen zum Schutz der Oder aus Deutschland und Polen sind gekommen, Mitarbeiter*innen des Nationalparks Unteres Odertal, Menschen aus Mescherin und den umliegenden Dörfern … Allen ging es darum, wie wir die Oder besser schützen und andere für den Wert einer intakten Natur sensibilisieren können. Dieser gemeinsame Tag voll toller Ideen für die Zukunft hat mir viel Mut gemacht.
Gleichzeitig klagen Umweltschützer*innen in Polen allerdings darüber, dass ihnen die Arbeit schwergemacht wird – auch solche, die sich für den Schutz der Oder einsetzen.
Das stimmt. Als Aktivist*in kann man sich manchmal ziemlich einsam fühlen, wenn man ignoranten Regierungen oder großen Unternehmen gegenübersteht … Aber die meiste Zeit ist man das gar nicht, man weiß nur nicht, wie viele Menschen hinter einem stehen. Daher habe ich zusammen mit Jutta Paulus und unterstützt von den polnischen Grünen sowie dem polnischen Ableger der Heinrich-Böll-Stiftung zwei Veranstaltungen für Aktivist*innen in Stettin organisiert. Dort konnten sie netzwerken, sich austauschen und gemeinsam Pläne schmieden. Beide Veranstaltungen sind sehr gut angekommen!
Und was war der schönste Moment deiner Oderreise?
Da gibt es so viele! „Die Oder verbindet“ ist ein Satz, den ich auf meiner Tour oft gehört habe. Vielleicht möchte ich deswegen eine solch verbindende Geschichte besonders herausstellen:
Letztes Jahr habe ich während des Fischsterbens den polnischen Künstler Ryszard Matecki kennengelernt. Ich hatte keine Worte für all die Zerstörung entlang des Flusses. Ryszard auch nicht, aber er hatte seine Kunst. Damals entstand das Werk „Die Oder weint, weil ihre Fische sterben“, das er mir an diesem Abend schenkte. Später zeichnete er einen ganzen Zyklus. Ryszards Bilder haben mich und viele Menschen entlang der Oder sehr berührt. In Mescherin haben wir deswegen eine Ausstellung dieser Werke im Gemeindehaus eröffnet. Später trafen wir uns in Stettin wieder und Ryszard schenkte mir ein neues Bild. „Es zeigt dich und all deinen Einsatz, die Oder zu schützen“, erklärte er mir. Ryszard spricht kaum Deutsch, ich kein Polnisch. Dank der Oder und seiner Kunst sind wir uns trotzdem sehr nah. Das Bild hat jetzt neben meinem Schreibtisch seinen Platz gefunden.
Wie geht es für die Oder jetzt weiter?
Das haben wir Menschen in der Hand. Schließlich waren es auch wir Menschen, die die Katastrophe im letzten Jahr verursacht haben. Eins möchte ich aber deutlich machen: Immer wieder höre ich „Die Wirtschaft braucht aber den Oderausbau“. Selbstverständlich gibt es Wirtschaftszweige, die die Oder auf eine bestimmte Art und Weise nutzen. Im letzten Jahr habe ich während meiner Tour eine Papierfabrik besucht. Frachtschiffe auf der Oder gibt es natürlich auch. Nur: Wegen des Klimawandels ist die Oder im Sommer viele Monate nicht schiffbar, es braucht also ohnehin andere Transportwege und nicht noch einen weiteren Oderausbau.
Zugleich ist der naturnahe Tourismus ein kontinuierlich wachsender Wirtschaftszweig in der Region, sowohl in Deutschland als auch in Polen. Er stellt eine gute Einkommensquelle gerade für Menschen in den vielen kleinen Dörfern entlang des Flusses dar. Viele davon habe ich während meiner Tour kennen gelernt: Frauke Bennett, die als Umwelt- und Landschaftsführerin Kanutouren durchs Zwischenoderland organisiert; Ryszard Matecki und seine Frau Sandrine, die einen Foodtruck betreiben; Sandie Gibouin und John Koziol mit ihrer Eco Lodge „Inn Vivo“; Brunhild Matthias, die im Kranichhof in Mescherin demnächst einen Seminarort eröffnen wird; Oderfischer Helmut Zahn, der von Angelkarten und dem nachhaltigen Fischfang lebt; oder die Besitzer*innen des Streichelzoos und Kanuverleihs Magiczny Zakatek, die Kindern die Natur und das Aufwachsen mit Tieren nahebringen wollen. Das Einkommen und die Zukunft dieser Menschen sind eng mit der Oder und ihren Nebenflüssen verknüpft. Für sie heißt es nicht „unsere Interessen oder die des Ökosystems“, für sie heißt es „wir gemeinsam mit der Natur“.
Wichtig für die Oder wird auch ein Gesetz zur Rettung der Natur, das am 12. Juli im Europäischen Parlament abgestimmt wird. Der Gesetzentwurf sieht Wiederherstellungsmaßnahmen bis 2030 für mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresflächen der EU vor (und bis 2050 für alle Ökosysteme, die solcher Maßnahmen bedürfen). Das ist eine riesige Chance für Lebensräume in der EU, die durch menschliche Aktivitäten und den Klimawandel geschädigt worden sind, derzeit schätzungsweise 80 Prozent. Beispiel für den sich verschlechternden Zustand der Flüsse in der EU – viele haben mit Wasserknappheit, Dürre und einen Rückgang der Artenvielfalt zu kämpfen. Nur mit raschen und wirksamen Gegenmaßnahmen können wir weitere Schäden verhindern bzw. abmildern und auf die Regeneration der betroffenen Lebensräume hinarbeiten. Wir brauchen also ein wirksames EU-Gesetz mit klaren Vorgaben. Dafür kämpfen wir Grüne im Parlament – und auch Rewilding Oder Delta, die uns im Rahmen meiner Tour ein anstehendes Renaturierungsprojekt an der Ina (ein Nebenfluss der Oder in der polnischen Woiwodschaft Westpommern) vorstellten.
Dieser Sommer wird entscheidend für die Oder werden: Kann sie sich erholen oder gibt es ein erneutes Fischsterben? Gemeinsam müssen wir weiter dafür kämpfen, dass endlich alle verstehen: Dieser Fluss ist vor allem anderen ein sehr fragiles Ökosystem und die Lebensader einer ganzen Region. Er verbindet Deutschland und Polen in einem vereinten Europa. „Mein Ufer“ – „Dein Ufer“: Diese Einstellung hat keinen Sinn.