Ortskräfte schutzlos zurückgelassen
Es herrscht heilloses Chaos in Afghanistan: Tausende afghanische Ortskräfte müssen um ihr Leben fürchten, da sie von den Islamisten als Verräter*innen eingestuft werden – von der Bundesregierung werden sie aber nur nach und nach in Sicherheit gebracht. Mit der Tagesschau habe ich über die Lage gesprochen: Es war seit längerem klar, dass die Taliban nach dem Abzug der internationalen Truppen weite Landesteile einnehmen würden. Am 14. Mai habe ich daher zusammen mit anderen Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Militärs und Ex-Diplomat*innen einen Brief an die Bundesregierung geschrieben und diese aufgefordert, die Ortskräfte schnellstmöglich zu evakuieren. Aber erst jetzt, Mitte August, beginnt die Bundesregierung endlich aus ihrer Starre zu erwachen. Es ist unfassbar viel Zeit verloren gegangen und man hat immense bürokratische Vorgänge aufgebaut, die jetzt als Begründung für das langsame Handeln vorgeschoben werden. Ich befürchte, dass es für einzelne Ortskräfte zu spät sein wird. Auch das sind unsere deutschen Toten in Afghanistan!
Mit der Tagesschau habe ich auch über die besondere Schutzbedürftigkeit von Ortskräften gesprochen. Das Vertrauen der einheimischen Menschen, die mit der Bundeswehr zusammenarbeiten, ist zentral für eine Mission wie die in Afghanistan. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass ein Land wie Deutschland sie nicht im Stich lässt. Die Ortskräfte in Afghanistan jetzt ihrem Schicksal zu überlassen, hinterlässt viel Enttäuschung und verbrannte Erde. Es macht uns als Deutsche für zukünftige Missionen sehr einsam und kann auch für aktuelle Einsätze problematische Folgen haben, beispielsweise in Mali, wo sich im Moment ebenfalls Soldat*innen der Bundeswehr im internationalen Einsatz gegen Islamisten befinden.
Die USA, die mehr Erfahrungen mit derartigen Auslandseinsätzen haben, verfolgen eine klare Politik: Wer für uns gearbeitet hat, den bringen wir auch in Sicherheit, wenn wir das Land verlassen. In Deutschland war der Ansatz offenbar: bloß nicht eine*n mehr als nötig. Deswegen sind wir jetzt dort, wo wir sind: Wir versuchen hektisch, alle zu evakuieren – wo es eigentlich schon zu spät ist. Zwar sollen nach Angaben des Bundesministeriums bis zum 14. August rund 1800 afghanische Ortskräfte ausgeflogen worden sein, aber das sind bei weitem noch noch nicht alle. Es müssen noch mindestens 1500 weitere enorm gefährdete Ortskräfte gerettet werden – und auch ihre Familien!
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Mehr InformationenVerhandlungen in Doha werden zur Alibi-Veranstaltung
Auch die EU kann einiges tun. So finden seit Monaten in Doha Verhandlungen zwischen den Taliban und Vertretern der afghanischen Regierung unter dem Beisein europäischer Sonderbeauftragter statt. Die Verhandlungen sollen zu einem belastbaren politischen Abkommen für Afghanistan führen. In Wirklichkeit gibt es aber keine Ergebnisse, und Drohungen sowie Forderungen europäischer Diplomat*innen verhallen ungehört.
In einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) betone ich, dass Gespräche zwischen den Konfliktparteien – wie sie in Doha stattfinden – zwar prinzipiell nötig sind, aber zunehmend zu Alibi-Veranstaltungen verkommen. Die Taliban geben vor, in Doha über den Frieden zu verhandeln, schaffen zeitgleich in Afghanistan mit brutaler Härte aber entgegengesetzte Fakten. Das ist das Gegenteil von vertrauensbildenden Maßnahmen! Ich fordere daher, dass die Europäische Union:
- alternative Szenarien entwickelt und den Druck auf die Taliban massiv erhöht;
- sicherstellt, dass humanitäre Hilfen alle Menschen in Afghanistan erreicht;
- zukünftige Hilfszahlungen an Demokratie und Menschenrechte knüpft;
- Menschenrechtsverbrechen in Afghanistan dokumentiert, damit diese später verfolgt werden können.
Chaos am Flughafen in Kabul
Tausende Menschen sind am Montag (16. August) am internationalen Flughafen in Kabul auf der Flucht vor den Taliban gestrandet. Hunderte Zivilisten versuchen auf irgendeine Weise, in eines der Flugzeuge vor Ort zu gelangen. Und was macht Deutschland, das Land mit dem zweitgrößten Militärkontingent in Afghanistan? Deutschland schafft bei der ersten Evakuierung in einer A400M gerade einmal 7(!) Menschen außer Landes. Inzwischen hat die Bundeswehr mehrere Flugzeuge mit bis zu 250 Personen ausfliegen können. Mit dem Handelsblatt habe ich darüber gesprochen, dass der Flughafen in Kabul dennoch länger geschützt werden muss, um mehr Menschen die Ausreise zu ermöglichen. Denn viele Menschen erreichen den Flughafen derzeit gar nicht – selbst die in Kabul nicht.
Wie ich dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mitgeteilt habe, ist in Deutschland eine fatale Situation entstanden: Im Auswärtigen Amt in Berlin hat man die Lage offensichtlich falsch eingeschätzt und auch dann noch nicht reagiert, als klar war, wie sehr es eilt. Privaten Unternehmen, die ihre Mitarbeiter*innen evakuieren wollten, wurde versprochen, das Auswärtige Amt werde sich kümmern – passiert ist aber nichts. Weiter wurde erklärt, dass nur Familienmitglieder mit deutschem Pass ausgeflogen werden. Aus der CDU gab es immer wieder interne Ansagen, nicht mehr Menschen als unbedingt nötig aufzunehmen. Zudem wird zunehmend klar, dass in der Bundesregierung noch immer Bürokratie vor Menschlichkeit geht. Ich befürchte, dass, wenn wir später auf diese Tage zurückblicken, noch viel Erschreckendes zutage treten wird.
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Mehr InformationenDer militärische Rückzug
Die Taliban haben deutlich schneller als erwartet eine Provinz nach der anderen in Afghanistan erobert. An nur einem Tag haben sie Kabul eingenommen, den Ort, an dem sich die meisten internationalen Organisationen und Botschaften befinden. Dass es bisher keine europäische Antwort auf die Krise in Afghanistan gibt, kritisiere ich in einem Interview mit El Confidencial.
So haben zwar Staaten wie Deutschland zum Beispiel auch Niederländer*innen oder Tschech*innen evakuiert – und andere Mitgliedsstaaten sind ebenso verfahren. Allerdings ist das noch weit entfernt von einer adäquaten Koordinierung auf EU-Ebene. Die Vertreter*innen der Europäischen Union – der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der Präsident des Europäischen Rats, Charles Michel – haben sich bisher mit Äußerungen sehr zurückgehalten. Am Dienstag (17. August) gab es dann endlich eine erste amtliche Mitteilung, die jedoch nur von 25 Mitgliedstaaten unterschrieben wurde. Eine bessere Koordination auf europäischer Ebene sieht anders aus. Solange wir Einstimmigkeit in der Außenpolitik brauchen, wird es sehr schwierig sein, in wichtigen Situationen wie dieser eine starke europäische Position einzunehmen.
Die militärische Stellung Europas in Afghanistan hängt von den USA ab. Mit dem Abzug der USA gab es keinerlei Möglichkeit, dass Deutschland, Frankreich oder die EU als Ganzes ihre militärische Präsenz in Afghanistan fortsetzen. In einem Interview mit DW News erkläre ich, dass es ein weiterer Fehler war, dass die Vereinigten Staaten nur mit den Taliban verhandelt und damit die demokratisch gewählte afghanische Regierung außen vor gelassen haben. Der Rückzug ging zu schnell vonstatten und diese Art von Rückzug entspricht nicht dem, was wir Grüne gefordert hatten. Unter politischen und strategischen Gesichtspunkten wäre es besser gewesen, länger im Land zu bleiben und den Rückzug gradueller zu gestalten. So hätte man den Rückzug besser organisieren können. Die war jedoch nicht möglich, da der Rückzug der USA beschlossene Sache war. Aufgrund dieser Abhängigkeiten werden in der EU immer mehr Stimmen laut, die eine stärkere europäische Verteidigungspolitik fordern. Allerdings wäre ich hier vorsichtig, denn eine gemeinsame Haltung der Mitgliedsstaaten ist bei solchen Krisen, wie wir sie jetzt in Afghanistan sehen, eben häufig in weiter Ferne.
Die Menschen in Afghanistan und die Europäische Union
Unsere Sorge sollte jetzt hauptsächlich den Menschen gelten, die direkt durch die Taliban bedroht sind. Sie sind gefährdet, weil sie uns bei unserer Mission in Afghanistan unterstützt haben. Sie haben sich zum Beispiel für Frauenrechte eingesetzt, für Hilfsorganisationen oder für das Militär europäischer Länder gearbeitet. Die meisten dieser Personen sitzen noch immer in Kabul fest – weil wir es versäumt haben, Vorsichtsmaßnahmen zu ihrem Schutz zu ergreifen und sie vor der Eroberung Afghanistans durch die Taliban zu evakuieren. Wir haben die unmittelbare Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie alle einen Flug bekommen!
Mich macht es wütend, dass wir jetzt in der Situation sind, von den Taliban zu erwarten, dass sie EU-Ortskräfte und Mitarbeiter*innen anderer Organisationen sowie Menschenrechts- und Frauenrechtsverteidiger*innen ausreisen lassen. Durch unser spätes Handeln müssen wir nun den Taliban im Gegenzug Zugeständnisse machen, sodass diese Menschen zum Flughafen gelangen und ein Flugzeug besteigen können. Diese Erpressung darf nicht länger andauern. Allein im Fall Deutschlands handelt es sich um circa 10.000 Schutzbedürftige. Über die Grenzen in Afghanistan können diese Flüchtlinge das Land nicht verlassen, da diese geschlossen sind. Aufgrund dessen besteht zudem die Gefahr, dass humanitäre Hilfe nicht alle Teile des Landes erreichen kann. Durch Verhandlungen mit den Taliban müssen wir daher dafür sorgen, dass:
- eine Ausreise möglich gemacht wird;
- humanitäre Hilfe in allen Teilen des Landes ankommt;
- sichere Routen für all jene geschaffen werden, die in Nachbarländer ausreisen wollen.
Es ist offenkundig, dass nicht alle diese Menschen in Afghanistans Nachbarländern bleiben können. Eine Person, die zum Beispiel für Frauenrechte gekämpft und sich damit den Regeln der Taliban widersetzt hat, wird sich schwerlich in Iran integrieren können. Für solche Menschen ist ein Neuanfang in der EU der einzige Weg. Zudem: Warum sollten Länder wie Pakistan, Usbekistan oder der Iran Abermillionen von Flüchtlingen aufnehmen, während wir nicht in der Lage sind, die Tore für vielleicht 25.000 Geflüchtete pro Mitgliedstaat zu öffnen?
Die Europäische Union kommt daher nicht umhin
- sich mit der Aufnahme bestimmter Personen in die EU zu befassen;
- in Gespräche mit dem Iran und Pakistan darüber einzutreten, wie Geflüchtete in den Nachbarländern Afghanistans in Sicherheit gebracht werden können;
- für eine geordnete Verteilung afghanischer Geflüchteter innerhalb der 27 Mitgliedsstaaten zu sorgen.
Europa ist auf Geflüchtete vorbereitet. Wir verfügen vielerorts nach wie vor über die Infrastruktur, die 2015 zum Einsatz kam. Wir haben noch immer die Kapazitäten, die sich bereits in 2015 und in den Jahren danach gebildet haben, sowie Integrationsprogramme, auf die wir zurückgreifen können. Innerhalb der EU befinden wir uns aber in einer Sackgasse, wenn es um die Verteilung der Geflüchteten geht – das betrifft nicht nur die Menschen aus Afghanistan, sondern auch diejenigen, die aus Syrien geflohen sind. Dieser gordische Knoten muss durchschlagen werden.
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Mehr InformationenDie afghanischen Frauen
Die Grundfreiheiten und -rechte von Frauen in Afghanistan zu verteidigen wird in der gegenwärtigen Situation sehr schwierig sein. Die Taliban haben versichert, dass sie Frauenrechte achten werden – indem sie die „Scharia“ befolgen. Es gibt aber viele verschiedene Auslegungen der Scharia. Bereits in den 1990er Jahren war das Taliban-Regime extrem repressiv. Ich habe kaum Hoffnung, dass es dieses Mal besser sein wird. Es müssen daher klare Bedingungen gestellt und der Druck auf die Taliban muss massiv erhöht werden. Wenn das die 27 EU-Mitgliedstaaten zusammen mit dem Vereinigten Königreich, den USA, Kanada, Australien und Japan zur Priorität machen, dann können wir etwas bewirken.
Wir müssen die Frauen schützen, die um ihr Leben fürchten. Viele afghanische Frauen wollen ausreisen und können es nicht, weil sie kein Visum bekommen. Manche Frauen schicken sogar ihre Männer zusammen mit ihren Kindern weg, weil es für sie einfacher ist, Kontrollen wie die Checkpoints zu passieren. In anderen Fällen wurde Ortskräften zwar ein Visum gewährt, ihren Familienangehörigen jedoch Visa verweigert. Auch hier haben wir eine Verantwortung gegenüber den Frauen. Ohne Programme zur Ausreise wird es nur den Stärksten gelingen, das Land zu verlassen.
Wir müssen daher den Taliban klare Grenzen aufzeigen. Die Taliban werden weiterhin auf internationale Gelder und Hilfe angewiesen sein. Wir sind bereit, diese Gelder zur Verfügung zu stellen – aber das muss an Bedingungen geknüpft sein bezüglich Demokratie, Frauen- und Menschenrechten. Zudem müssen wir Druck auf Pakistan ausüben: Viele vergessen die strukturelle Rolle, die dieses Land innehat. Wir müssen deutlich machen, dass jegliche wirtschaftliche Unterstützung, die über humanitäre Hilfe hinausgeht, nicht direkt an die Taliban gehen kann. Ob es uns gefällt oder nicht, die Taliban regieren jetzt Afghanistan und wir haben keine andere Wahl, als in den Dialog mit ihnen einzutreten. Die EU muss sich darüber einig werden, welche Prioritäten sie hier setzen will.
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Mehr InformationenDie Selbstinszenierung der Taliban
In den letzen Wochen haben wir deutlich gesehen, dass sich die Taliban anpassen können. Sie sind sogar so weit gegangen, mit ihrem Erzfeind, den Vereinigten Staaten, zu verhandeln, und dabei Vorteile herauszuschlagen. Inzwischen sprechen sie gut Englisch und polieren ihr Image, um so ihre Ziele zu erreichen. Ich glaube allerdings nicht, dass sich diese Ziele geändert haben. Ich wünschte, ich würde mich irren, aber die Realität sieht anders aus: Zum Beispiel durchsuchen die Taliban die Häuser von Menschen, die für die internationale Gemeinschaft gearbeitet haben, oder entfernen Fernsehmoderatorinnen von ihren Posten. Wir werden die Taliban daher an ihren Taten und nicht an ihren Worten messen. Und diesen Worten können wir offensichtlich nicht allzu viel Glaubwürdigkeit schenken.
Die westliche Gemeinschaft sollte eine Übergangsregierung der Taliban nicht anerkennen. Ihre Führung und die erste Pressekonferenz haben deutlich gemacht, dass es in Afghanistan mit den Taliban keine Demokratie geben wird. Solange das so bleibt, gibt es keinen Raum für eine Anerkennung durch Europa oder die USA. Wir werden abwarten müssen, wie andere Länder sich verhalten: Das wird zeigen, wo jedes Land im Kampf der Autokratien gegen die Demokratien steht.
Wir versuchen, diesen Artikel regelmäßig zu aktualisieren. Aufgrund der sich ständig verändernden Lage wird dies jedoch nicht immer sofort möglich sein.